Ein Ereignis wird mir immer in Erinnerung bleiben. In einer Gruppe von demenziell erkrankten alten Damen befand sich eine Teilnehmerin, mit der eine Kommunikation kaum möglich war.
Sie beachtete die anderen Teilnehmerinnen gar nicht, starrte versonnen vor sich hin, während die anderen miteinander sprachen, und gab auch nie etwas weiter, was weitergereicht werden sollte, zum Beispiel ein kleiner Ball. Letzteren befühlte und beleckte sie, bis sie ihn achtlos fallen ließ. Ich hatte sie nie
sprechen gehört.
Eines Tages sangen wir ein Volkslied. „Hoch auf dem gelben Wagen …“ – Und voller Erstaunen vernahm ich plötzlich die Stimme dieser alten Dame, die nie zuvor auch nur ein Wort geäußert hatte. Klar und rein, wenn auch mit ein wenig zittriger Altfrauenstimme sang sie das Lied. Und, noch erstaunlicher, alle
Strophen. Die Musik hatte etwas geweckt, was vorher keine Veranstaltung, kein Gespräch, keine „Maßnahme“ bewirkt hatte. Sie erinnerte sich an ihre frühere Jugend, in der sie das Lied gelernt und oft gesungen hatte – und sang es wieder.
Die Wirkung von Musik, das stellte ich immer wieder im Umgang mit demenziell erkrankten Menschen fest, kann erstaunliche Reaktionen bewirken.
Vermutlich haben Sie selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht im Umgang mit Ihren Pflegebedürftigen. Es wirkt manchmal wie ein Wunder. Aber es ist keins. Es ist die wunderbare Wirkung der Musik.
Töne der Erinnerung.
Musik hat etwas für den Pflegebedürftigen sehr Wichtiges: Sie erinnert ihn an die Zeit, die er einst erlebt hat, die er durch die Musik plötzlich wieder erlebt als Gegenwart. Er fühlt sich wohler, ruhiger, weniger
umtriebig, weil er sich in der Zeit glaubt, in die ihn die Demenz geschickt hat.
Menschen mit Demenz sind umtriebig, weil sie mit ihrer Umgebung nichts anzufangen wissen. Sie „laufen weg“, weil sie in das Zuhause wollen, das sie kennen, nicht in das, welches ihnen als ihr Zuhause verordnet wird. Und da helfen ihnen die Töne der Erinnerung, geben ihnen für einige Zeit das Gefühl,
wieder eine Heimat zu haben.
Sie werden selber schon bemerkt haben, wie sehr Musik anregen, manchmal auch aufregen kann, wenn sie sehr Persönliches bei dem demenziell Erkrankten berührt. Beim gemeinsamen Singen mit ihm oder beim Vorspielen der Lieder auf der CD wird meist schnell kenntlich, welche er kennt und mag. Singen Sie
so oft es geht mit ihm diese Lieder oder lassen Sie ihn auch mal längere Passagen der CD anhören. Wenn die Konzentration nachlässt, bieten Sie ihm eine andere Beschäftigung.
Töne der Erinnerung sind eng mit dem Gefühlsleben des Demenzkranken verbunden. Sie rufen die verschiedensten Gefühle wach: Gefühle von Frohsinn und fröhlicher Gemeinschaft. In der Jugend unserer heute alten Menschen wurde wesentlich mehr und öfter gemeinsam gesungen, gemeinsam Musik gemacht. Auf den Festen in der Familie, bei Verwandten oder Freunden gab es das gemeinsame
fröhliche Singen. Deshalb werden Sie feststellen, dass gemeinsames Singen in der Gruppe häufig noch heute großen Anklang findet bei Ihren Pflegebedürftigen. Gefühle der Verbundenheit werden wieder wach.
Töne der Erinnerung wecken, wie schon begründet, das Gemeinschaftsgefühl. Gesungen, gefeiert, getanzt wurde meist in der Gemeinschaft. Es sind die alten Lieder, die wieder in diese Gemeinschaft führen. Sie ist für die meisten Demenzkranken ein hoher Wert. Dieses Gefühl der Gemeinschaft kann in der Gruppe einer Einrichtung durch das gemeinsame Singen ebenso geweckt werden wie in der pflegenden Familie.
Es kommen oft Gefühle bei demenziell Erkrankten auf, die jahrelang nicht geäußert wurden; fröhliche, freudige, aber auch traurige. Nicht selten können die Betroffenen wieder einmal weinen – und sind danach ruhiger, weniger aufgeregt.
Töne der Erinnerung sind auch ein wertvolles Gedächtnistraining für Ihre demenziell erkrankten Pflegebedürftigen, wenn es richtig verstanden wird. Hier muss man sehr deutlich unterscheiden, ob jemand an einer leichten Demenz leidet, die gerade beginnt. Derjenige kann mit Hilfe der Musik zu Erinnerungen an angenehme Situationen seiner früheren oder späteren Vergangenheit kommen, oder aber auch an weniger angenehme Situationen. Musik kann ihm unter Umständen helfen, seine aktuelle Situation besser zu verarbeiten.
Der überwiegende Teil der Kranken mit leichter Demenz wird häuslich betreut von Ihnen als Angehörige, zum Teil mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes. Sie sollten sehr aufmerksam beobachten, wie die Musik auf Ihren Angehörigen wirkt. Viele sind depressiv in dieser Phase. Musik sollte
keinesfalls eine verstärkende Wirkung haben, was im Einzelfall durchaus möglich ist.
In der Mehrzahl der beobachteten Fälle wirkt sie jedoch belebend, aktivierend und führt im Zusammenhang mit Ihrer engagierten Pflege zur Verringerung depressiver Symptome.
Für Pflegebedürftige, deren Demenz bereits weiter fortgeschritten ist, wirkt Musik mit den Tönen der Erinnerung tatsächlich wie ein Gedächtnistraining. Sie hilft ihnen, ihre innere Gegenwart besser zu verstehen, sich zu erinnern z.B. an Lieder, aber auch an Lebenssituationen, die mit diesen Liedern für sie verknüpft sind. Sie führt sie an ihre innere Realität heran und führt dazu, die Probleme ihrer äußeren Realität zurückzusetzen, die sie nur stärker verwirren.
Entspannung mit demenziell Erkrankten
In der pflegerischen Praxis schon oft erprobt, in der Literatur bisher weniger beachtet ist die Entspannung mit demenziell Erkrankten Mithilfe spezieller Entspannungsmusik. Auf unserer zweiten CD finden Sie Entspannungsmusik, die speziell für Menschen mit Demenz entwickelt wurde. Der ruhige Rhythmus in Verbindung mit einer sehr melodischen Klangführung kann – auch abhängig
von Persönlichkeitskomponenten des Kranken – zu einer spürbaren Beruhigung
führen.
Eine wichtige Rolle spielt die Umgebung, in der Sie diese Musik abspielen. Sie sollte geräuscharm, von der Tageshektik abgeschottet und mit bequemen Sitzmöglichkeiten ausgestattet sein. Und es ist so gemeint, wie es da steht: Sie sollten mit dem Demenzkranken entspannen. Begeben Sie sich mit ihm
gemeinsam in die Entspannung. Natürlich behalten Sie- bei aller eigenen Entspannung – die Übersicht, wie die Wirkung auf ihn ist und wann es ratsam ist, den Entspannungsteil zu beenden.
Sie finden manchmal in der Fachliteratur auch die Meinung vertreten, dass Musik ohne Text sich wenig oder gar nicht für Demenzkranke eignet. Dahinter verbirgt sich des öfteren der Gedanke, dass Musik früher sehr „gegenständlich“ wahrgenommen wurde, eben in Liedform mit konkreten Texten und
innewohnenden Handlungen. Das heißt aber nicht, dass sie kein Verhältnis zu entspannender Musik finden können. Wie oft summt mancher – auch Sie selbst vielleicht – eine Melodie leise vor sich hin und entspannt. In dieser Situation geht es nicht um das Singen, um die Gemeinsamkeit, sondern um das Gefühl, für kurze Zeit von allen Sorgen und allen Leistungsanforderungen des Alltags
befreit zu sein.
Einige Dinge sind zu beachten:
– Die räumliche Situation von der wir gerade gesprochen haben. In stationären Einrichtungen ist oft die Möglichkeit des Snoezelenraums gegeben, der sich hervorragend für Entspannung eignet…
– Die innere Bereitschaft Ihres Pflegebedürftigen. Nicht immer ist er in der Situation, sich in eine entspannende Musik einbeziehen zu lassen. Vielleicht ist er erregt durch äußere Umstände, aggressiv, weil vielleicht unverstanden, oder depressiv und traurig. Bemerken Sie, dass er sich nicht in die Entspannung einfinden kann, akzeptieren Sie es. Es wird andere, günstigere Momente geben.
– Die Haltung zur Musik allgemein und zu atonaler Musik speziell. Natürlich spielt eine Rolle, ob Ihr Pflegebedürftiger überhaupt ein Verhältnis zur Musik hat. Im Einzelfall kann es durchaus sein, dass er nur bestimmte Musik mag oder sie sogar insgesamt ablehnt. Aber trotzdem sollten Sie diese spezielle
Musik ihm zu Gehör bringen – bei Beachtung des eben Gesagten. Die begleitende Musik ist für viele etwas wie andere Entspannungsgeräusche: das eintönige Klopfen des Regens an die Fensterscheiben, das Rauschen der Wellen oder das Plätschern des Baches.
Natürlich, und das kann nicht oft genug betont werden, ist Musik in ihrer Wirkung etwas ganz Individuelles, etwas ganz Besonderes für jeden Einzelnen. Möglichst gute Kenntnis der Biografie und deren sorgsame Beachtung helfen Ihnen, diese Wirkung zu erreichen.
Wir wünschen Ihnen dabei viel Erfolg.
Dr. habil. Rudi Schütt
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